Staatsgerichtshof des Landes Hessen

Grundrechtsklage einer Partei statthaft, aber mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig

„Beschluss des Staatsgerichtshofs zu einer Grundrechtsklage des Landesverbandes Hessen der Partei „Alternative für Deutschland“.

Lesedauer:6 Minuten

Nr. 01/2024

Beschluss des Staatsgerichtshofs in dem Grundrechtsklageverfahren des Landesverbandes Hessen der Partei „Alternative für Deutschland“ wegen einer Äußerung des Hessischen Ministerpräsidenten

- P.St. 2910 -

Mit Beschluss vom 1. Dezember 2023 hat der Staatsgerichtshof des Landes Hessen die Grundrechtsklage des Landesverbandes Hessen der Partei „Alternative für Deutschland“ wegen einer Äußerung des Ministerpräsidenten während einer Pressekonferenz am 7. September 2022 mangels Erschöpfung des Rechtswegs zurückgewiesen. Dabei hat er entschieden, dass politische Parteien ihre Grundrechte gegen Verfassungsorgane des Landes Hessen grundsätzlich im Wege der Grundrechtsklage geltend machen können.

1. Am 7. September 2022 äußerte sich der Hessische Ministerpräsident während einer Pressekonferenz in Alzenau/Bayern, deren Videoaufnahme im Internet veröffentlicht wurde, kritisch über den Landesverband Hessen der Partei „Alternative für Deutschland“ (im Folgenden: Antragstellerin).

2. Die Antragstellerin erhob gegen die Äußerungen des Hessischen Ministerpräsidenten zunächst Klage zum Verwaltungsgericht Wiesbaden. Nachfolgend erhob sie am 3. März 2023 Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof. Sie sieht sich durch die Äußerungen des Hessischen Ministerpräsidenten während der genannten Pressekonferenz in ihrem Recht auf Chancengleichheit und parteipolitische Neutralität aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz – GG – i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 73 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes Hessen – HV – verletzt.

3. Der Staatsgerichtshof kam mit seiner Entscheidung zu dem Ergebnis, dass die Grundrechtsklage zwar statthaft, aber mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig ist.

4. Der Antragstellerin als politischer Partei steht die Grundrechtsklage als statthafter Rechtsbehelf zur Verfügung.

a) Nach der ständigen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sind Streitigkeiten, in denen sich politische Parteien gegenüber obersten Bundes- und Landesorganen auf ihren spezifischen Status aus Art. 21 Abs. 1 GG und die hieraus folgenden Rechte berufen, im Bundes- oder Landesorganstreitverfahren und nicht im Verfassungsbeschwerdeverfahren auszutragen. Der Staatsgerichtshof ist an die bundesverfassungsgerichtliche Auslegung des Art. 21 Abs. 1 GG gebunden, da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Recht der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen auf Landesebene aus ihrem in Art. 21 Abs. 1 GG umschriebenen verfassungsrechtlichen Status folgt, der unmittelbar auch für die Länder gilt und Bestandteil der Landesverfassungen ist. Damit ist der Staatsgerichtshof auch an die vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 21 Abs. 1 GG abgeleitete Qualifizierung der Parteien als grundsätzlich organstreitfähige Verfassungsorgane gebunden.

b) Allerdings sind nach hessischem Verfassungsprozessrecht politische Parteien nach Art. 131 Abs. 1 HV i.V.m. § 15 Nr. 4, § 42 Gesetz über den Staatsgerichtshof – StGHG – im Verfassungsstreitverfahren nicht beteiligtenfähig. Das allein rechtfertigt zwar noch nicht die Annahme der Statthaftigkeit der Grundrechtsklage. Die Verfassungsbeschwerde und damit auch die Grundrechtsklage nach hessischem Verfassungsrecht sind kein verfassungsgerichtlicher Auffangrechtsbehelf für unzulässige Organ- und Verfassungsstreitverfahren. Im Falle politischer Parteien besteht allerdings eine Besonderheit. Obwohl den Parteien verfassungsorganschaftliche Qualität zuerkannt wird, sind sie keine Staatsorgane und nicht Teil der organisierten Staatlichkeit, sondern im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen. Durch diese Verankerung im gesellschaftlich-politischen Bereich unterscheiden sich die Parteien von anderen Beteiligten im Organstreitverfahren. An dieser gesellschaftlich-politischen Zuordnung der Parteien ändert sich auch nichts, wenn sie mit obersten Staatsorganen um die spezifischen Rechte aus Art. 21 Abs. 1 GG streiten. Dabei handelt es sich um ein verfassungsorganschaftliches Rechtsverhältnis, das nicht nur durch Art. 21 Abs. 1 GG und die den obersten Staatsorganen eingeräumten verfassungsrechtlichen Kompetenzen und Befugnisse, sondern jedenfalls subsidiär auch durch die den Parteien zustehenden Grundrechte wie insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 1 HV ausgestaltet ist. Im hessischen Verfassungsrecht steht Parteien daher der Rückgriff auf die Grundrechtsklage offen, um ihr auch grundrechtlich geprägtes Recht auf Chancengleichheit und parteipolitische Neutralität aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 73 Abs. 2 Satz 1 HV gegen oberste Staats- und Verfassungsorgane des Landes zu verteidigen.

5. Die Grundrechtsklage der Antragstellerin ist allerdings mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig. Ist für den Gegenstand einer Grundrechtsklage der fachgerichtliche Rechtsweg eröffnet, kann die Grundrechtsklage nach § 44 Abs. 1 Satz 1 StGHG erst erhoben werden, wenn dieser Rechtsweg erschöpft ist. Diese Voraussetzung hat die Antragstellerin nicht erfüllt. Zwar ist zweifelhaft, ob in der vorliegenden Konstellation der Verwaltungsrechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – tatsächlich eröffnet ist. Da sich die Antragstellerin gegenüber dem Hessischen Ministerpräsidenten wegen dessen Äußerungen auf spezifisches Verfassungsrecht beruft, könnte es sich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handeln, für die der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet ist. Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung nach § 44 Abs. 1 Satz 1 StGHG verlangt allerdings, dass vor Erhebung der Grundrechtsklage auch solche Rechtsbehelfe zu ergreifen sind, deren Zulässigkeit nicht eindeutig geklärt ist. Ob politische Parteien, die sich durch Äußerungen von obersten Landesorganen oder ihrer Teile in ihrem Recht auf Chancengleichheit und parteipolitische Neutralität verletzt fühlen, diese Rechte vor den Verwaltungsgerichten geltend machen können, ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht hinreichend geklärt. Die Antragstellerin hätte daher vor Erhebung der Grundrechtsklage den von ihr bereits beschrittenen Verwaltungsrechtsweg erschöpfen müssen, was sie noch nicht getan hat.

Der vollständige Beschluss steht auf der Homepage des Staatsgerichtshofs zum Abruf bereit (www.staatsgerichtshof.hessen.deÖffnet sich in einem neuen Fenster).

Ioanna Dervisopoulos

Richterin am Verwaltungsgericht

Staatsgerichtshof des Landes Hessen

Wissenschaftliche Mitarbeiterin